Theoretische Grundlagen zur Hermeneutik und Sequenzanalyse
Inhaltsverzeichnis
Was ist die Sequenzanalyse?
Die Sequenzanalyse ist eine qualitative Methode der Hermeneutik. Ihr vorrangiges Ziel ist die Rekonstruktion von handlungsgenerierenden Regeln, bzw. die (Re)Konstruktion der sozialen Bedeutung von Handlungen. Also dem Finden einer Sinnfigur / latenten Struktur aus dem Text heraus, mit deren Hilfe soziales Handeln erklärt werden kann. Dabei wird angenommen, dass die handelnden Subjekte selbst nur in Ausnahmefällen die volle Bedeutung ihrer Handlung kennen.
Im Kernstück der Sequenzanalyse ist die chronologische Vorgehensweise, d.h. Daten werden anlang ihrer zeitlichen Entstehen, chronologisch, interpretiert. Zu keiner Gelegenheit sind dabei Daten aus einem späteren Zeitpunkt zu nutzen, um einen Früheren zu erklären. Ihr zugrunde liegt die interaktionistische Strukturanalyse. a) Der Interaktionistischen-Aspekt. Die Lebenspraxis zwingt den Akteur zu Handlungen, ohne dass für die konkrete Handlung selbst eine Begründung bekannt ist. Das Handeln gilt also nicht als vornherein determiniert, deswegen ist ein permanentes Entstehen neuer Handlungen möglich. b) Der Struktur-Aspekt. Auch wenn neue Handlungen prinzipiell jederzeit entstehen können, bedeutet das nicht, dass diese als Zufällig anzusehen sind. Die Produktion neuer Handlungen vollzieht sich anhand sozial vorgedeuteter Bahnen, welche generell rekonstruierbar sind. Weiterhin ist zu beachten, dass die Sequenzanalyse lediglich für Einzelfälle nutzbar ist. Standardisierte und großflächige Erhebungen werden aus methodologischen Gründen abgelehnt, dabei ist ein radikales und unvoreingenommenes sich-einlassen auf den Fall nötig.
Warum Sequenzanalyse?
Die Sequenzanalyse wird vor allem dann verwendet, wenn es um die Deutung der Tiefendimension/der latenten Strukturen geht. Der Vorteil dieser herangehensweise liegt in der Aufwendigkeit und Unhandlichkeit der Methode. Was zunächst Paradox klingt, führt uns, wenn strikt durchgeführt wird, zur “Zerstörung der eigenen Vorurteile” und weg vom Raum alltagsweltlicher Interpretation. So brechen alle geltenden Vorurteile, Urteile, Meinungen und Ansichten in der Regel schnell zusammen. Jedoch bleibt es wichtig, den Vorgang des eigenen Deutens mit soziologischem Blick selbst zu betrachten. Denn, Interpretative Soziologie ist auch immer die Soziologie des Interpretierens.
Voraussetzung für empirisches Vorgehen (Prinzipien der Sequenzanalyse)
Die Bedeutung von sozialen Interaktionen wird regelgeleitet von den Mitgliedern einer Sprach- und Interaktionsgemeinschaft produziert. Wer Mitglied einer solchen Gemeinschaft ist, der kann Bedeutung sowohl gültig Konstruieren, als auch Rekonstruieren. Als Begünstigend hat sich dabei die gemeinsame Interpretation erwiesen (Prinzip der Gruppeninterpretation). Die Interpretation selbst sollte abseits von einer gewissen zeitlichen Komponente vollzogen werden. Der Handlungsdruck der Interpretierenden gilt aufgelöst zu werden, d.h. die Analyse findet ohne Zeitdruck statt (Prinzip der Entlastung vom Handlungsdruck). Das zu interpretierende Material ist in seiner gesamtheit wahrzunehmen. Es ist anzunehmen, dass kein Detail im zu analysierenden Text als unwichtig oder gar zufällig gilt (Prinzip der Totalität). Die Interpretation selbst wird Zug um Zug, also Sequenz für Sequenz, vollzogen (Prinzip der Sequentialität). Außerdem ist Kontextwissen über die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten auszublenden (Prinzip der Kontextfreiheit).
Vorgehen bei der Sequenzanalyse
Die generelle Vorgehensweise beschreibt sich sehr simpel: Man nehme das zu interpretierende Transkript, bzw. Material und beginnt mit der Interpretation der ersten Einheit. Was dabei als eigentliche Interpretationseinheit, oder Sequenz, festgelegt wurde gilt eher als ein sekundäres Problem. Bei der Interpretation gilt es verschiedene Lesearten zu produzieren: Der Beginn der Interaktion wird betrachtet und gedankenexperimentell möglichst viele Kontextbedingungen entwickelt, die die Äußerungen verständlich und pragmatisch sinnvoll erscheinen lassen. Als Leseart kann man so gesehen “sinnergebende Geschichten” verstehen. Lesearten repräsentieren unterschiedliche Aktualisierungen von Handlungsregeln und deren Geltungsbedingungen.
In einem nächsten Schritt werden die implizierten Handlungsregeln der einzelnen Lesearten nun expliziert ausbuchstabiert. Ziel hier ist das Aufzeigen des gesamten möglichen Handlungsraumes des Handlungssystems. “Je ausführlicher die latente Sinnstruktur des ersten Interakt bestimmt worden ist, desto deutlicher und konturierter läßt sich in der sequentiellen Analyse das den Fall abdeckende, spezifische Interaktionsmuster herauskristalisieren.” (Oevermann et al. 1979, S.420)
Im letzten Schritt werden die aufgestellten Regeln überprüft und falls möglich ausgeschlossen. Wichtig ist hier die Frage danach, welche Regeln tatsächlich verwirklicht wurden, und welche nicht. Aufschlussreich für das Material ist hierbei nicht allein, welche Lesearten sich als kompatibel mit dem im Material gegebenem Kontext erwiesen haben, sondern gerade, welche am Ende ausschieden. Anschließend wird sich der nächsten Sequenz gewidmet und das Vorgehen wird wiederholt: Leseartproduktion, Explikation der pragmatischen Implikationen, Vergleich mit empirischer Realisierung, Ausschluss von Lesearten. Dabei werden nur Lesearten verfolgt, die sich auch mit vorherigen Sequenzen kompatibel erweisen haben. Über Zeit werden die aufgestellten Lesearten nach und nach ausgesiebt.